Einem interdisziplinären Forscherteam gelang es, durch die statistische Aus-wertung von Geburts- und Sterbeorten von namhaften Persönlichkeiten die Migrations- und Interaktionsmuster der Kulturgeschichte zu beleuchten. Die Studie, die am kommenden Donnerstag in «Science» erscheint, zeigt, dass sich Natur- und Geisteswissenschaften gegenseitig befruchten und letztere von komplexer Netzwerkforschung profitieren können.
Ein umfangreicher Datensatz mit Geburts- und Sterbeorten von namhaften Kulturschaffenden reicht aus, um mit statistischen Methoden die kulturelle Bedeutung und Interaktion von Orten in Europa und Nordamerika über 2000 Jahre hinweg zu berechnen. Das zeigt eine siebenköpfige Forschergruppe der ETH Zürich, der Northeastern University in Boston und der University of Texas at Dallas in einem Artikel der aktuellen Ausgabe von «Science». Der Erstautor Maximilian Schich, promovierter Kunsthistoriker, leitete das umfangreiche Projekt in der Gruppe von Dirk Helbing, Professor für Soziologie mit den Schwerpunkten Modellierung und Simulation an der ETH Zürich.
«Langweilige» Daten für spannende Interaktionsmuster
Geburts- und Todesdaten von Kulturschaffenden seien für Kunsthistoriker etwas vom Langweiligsten überhaupt, gesteht Schich. «Doch verfügt man über genügend langweilige Daten, so finden sich darin plötzlich spannende Muster.» Die Forscher haben deshalb Geburts- und Sterbeorte von über 150‘ 000 Personen, die in drei Internet-basierten Künstler-Datenbanken verfügbar sind, kombiniert und mit statistischen Verfahren ausgewertet. Die Visualisierung der Resultate zeigt, welche Orte in welchen Zeiträumen kulturelle Attraktivität besitzen, und enthüllt die Migrations- und Interaktionsmuster.
Die Mobilitätsmuster lassen beispielsweise erkennen, wie Amerika nach seiner Entdeckung allmäh-lich erschlossen wird. Man sieht einen starken Sog in Richtung Westküste, etwa Hollywood. In Europa geht ein Grossteil der kulturellen Entwicklung von Rom aus. In Frankreich setzt die Tendenz zur Zentralisierung in Paris bereits kurz vor dem 15. Jahrhundert ein, also rund 200 Jahre vor dem Absolutismus. Durch die Kumulation der Sterbedaten namhafter Kulturschaffender, die vor allem für die Zeit nach dem 13. Jahrhundert dokumentiert sind, konnten die Forscher graphisch darstellen, wie Paris seine Rolle als zentraler Knotenpunkt des kulturellen Schaffens kontinuierlich ausbaut. Ganz anders ist die Dynamik hingegen in Deutschland und anderen Staaten Europas, wo parallel zur Zentralisierung in Frankreich Föderalisierungsprozesse auftreten. In Deutschland fluktuiert vom 13. Jahrhundert an die Attraktivität von Städten wie München, Köln, Leipzig, Heidelberg, Dresden, Hamburg oder Berlin dauernd.
Laut den Autoren ist für die Kunstgeschichte insbesondere die Erkenntnis neu, dass nicht alleine ökonomische Zentren Anziehungspunkte für Künstler waren und die Attraktivität von Orten als Geburts- oder Sterbeorte nur gering mit der Ortsgrösse korreliert. In Hollywood, dem Stadtteil von Los Angeles der besonders attraktiv für Schauspieler und Drehbuchautoren ist, starben zehnmal mehr Kulturschaffende, als dort geboren wurden.
Gegenseitige Befruchtung von Natur- und Sozialwissenschaften
Schich und seine Kollegen hoffen, dass die vorliegende Studie dazu beitragen wird, die an vielen Hochschulen bestehenden Vorbehalte zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu reduzieren. Einer davon: Naturwissenschaftler sind an allgemeinen Gesetzmässigkeiten interessiert, Geisteswissenschaftler lieben das Detail. Der neue Forschungsansatz vereint beides. Er liefert ein daten-basiertes Instrument, ein "Makroskop," um Regelmässigkeiten und Trends in den Daten zu erkennen. Gleichzeitig hilft er, Abweichungen und Besonderheiten zu identifizieren. «Unser Ansatz kann als Weltkarte dienen, anhand derer man leichter orten kann, bei welchen Phänomenen eine genauere Untersuchung lohnenswert sein könnte», erklärt Schich. Die Kombination von Geburts- und Todesdaten mit Daten von Google n-Grams ermöglicht es sogar, Aktivitätsmuster automatisch historischen Ereignissen zuzuordnen. Damit wird die Kulturgeschichte auch dem Laien schneller zugänglich. Schich ist überzeugt: «Langfristig werden Methoden der daten-getriebenen, quantitativen Sozial- und Kulturwissenschaft helfen, unsere kulturellen Schätze, und wie sie durch Interaktion von Personen und Ideen zustande gekommen sind, besser zu erschliessen.»
Sieben Forscher und ein Strauss an Disziplinen
Publikationen von Geisteswissenschaftlern in dem für naturwissenschaftliche Forschung bekannten Science-Magazin sind äusserst rar. Dafür war die Zusammenarbeit von sieben Wissenschaftlern mit Expertise in den Bereichen Kunstgeschichte, komplexe Netzwerke, Komplexitätsforschung, compu-ter-basierte Soziologie, Informationsdesign, Physik und Mobilität nötig. In Zukunft könnte die entwi-ckelte Methode für weitere statistische Datenauswertungen von «Knowledge Graphs» im Internet eingesetzt werden. Knowledge Graphs sind strukturierte Datenbanken mit Daten zu Personen, Objekten, Orten, Perioden und Ereignissen, aus welchen Dienste wie Google und Facebook ihre Informationsangebote zusammensuchen. Die Kunst-, Geistes- und Sozialwissenschaften könnten dadurch von einer neuen Makro-Perspektive auf bestimmte Ereignisse profitieren.
Weitere Informationen
University of Texas at Dallas
Prof. Maximilian Schich
Art and Technology
Telefon: +49-179-667-8041 (bis 18. Aug.)
maximilian.schich@utdallas.edu
ETH Zürich
Prof. Dirk Helbing
Professur für Soziologie
Telefon: +41 44 632 88 80
dhelbing@ethz.ch
https://www.ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/medien.html (Die Medienmitteilung wird erst nach Ablauf der Sperrfrist inklusive Bilder und Animationen aufgeschaltet.)
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Informationstechnik, Kulturwissenschaften
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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